Landwirtschaft zwischen LSV und Agroökologie
Heute ergab es sich, dass ich zum einen im Kino zum Dokumentarfilm "VANDANA SHIVA - EIN LEBEN FÜR DIE ERDE" war, zum anderen schickte mir meine Schwester einen Link zu einem Interview zwischen Anthony-Robert Lee und Boris Reitschuster. In beiden Beiträgen geht es um die Landwirtschaft und mit welchen Schwierigkeiten sie zu kämpfen hat. Der Blick von Vandana Shiva, im folgenden nur noch VS genannt, leitet sich naturgemäß eher aus ihren Erfahrungen in Indien und Afrika ab, wobei sie die Verhältnisse auch in Europa gut kennt. Anthony-Robert Lee, ab jetzt ARL genannt, ist Landwirt und Sprecher von „Landwirtschaft verbindet Deutschland e.V.“. Er kämpft sozusagen hier vor Ort in Deutschland mit den Gegebenheiten, die nicht einfach für die Bauern sind.
Der Blogbeitrag ist als UPDATE zu https://blog.doctor-bee.org/dbj052020/ zu lesen. Leider hat sich zwischenzeitlich wenig in der Sache geändert. VS ist nach wie vor für die meisten konventionellen Bauern hier ein rotes Tuch, steht sie doch für eine Landwirtschaft ohne Pestizide, Kunstdünger, GMO und eher geringen Technikeinsatz. Alle vier Komplexe sind aber für den modernen europäischen Bauern essentiell, gar nicht mehr wegzudenken und führten geradewegs „ins Mittelalter“, wenn man auf sie verzichten würde.
Als aktuelles Beispiel für das Scheitern einer agroökologischen Ausrichtung der Landwirtschaft wird gern Sri Lanka angeführt. In Sri Lanka gab es massive Unruhen in 2022 infolge einer rapiden Verschlechterung der Lebensumstände für die Bevölkerung, inklusive Hunger. In 2021 hatte die Regierung entschieden, auf den Import von Pestiziden und Kunstdünger zu verzichten. VS hatte dies unterstützt, siehe https://navdanyainternational.org/sri-lankas-shift-towards-organic-farming/ . Die Situation in 2022 wird von den Kritikern von VS darauf zurückgeführt. VS gibt unter https://navdanyainternational.org/the-perfect-storm-that-hit-sri-lanka/ ihre Sicht auf die Dinge wieder. Demzufolge waren verschiedenen Faktoren, nicht zuletzt eine gigantische Staatsverschuldung, die Auswirkungen der COVID-Krise auf den Tourismus und die zusammenbrechende finanzielle Unterstützung der Gesellschaft durch Sri-Lanker im Ausland, infolge mangelnder Arbeit in der COVID-Krise, entscheidende Faktoren. Die Anhänger der agrökologischen Landwirtschaft nennen Kuba als Beispiel eines gelungen Wandels hin zur Agroökologie. Das Land war nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und den Boykott der USA gezwungen worden, unfreiwillig diesen Weg zu gehen.
Es gibt jedoch sehr viele Gemeinsamkeiten in der Beschreibung der Probleme und nicht selten in Lösungsansätzen zwischen ARL und VS jenseits der Frage, ob die Landwirtschaft ein agrarökologische Wende braucht. Fangen wir mit einem emotionalen Thema an.
Die Selbstmordrate unter Landwirten ist infolge der schwierigen wirtschaftlichen Lage auch in Deutschland hoch. ARL spricht es an. VS spricht es für die indischen Bauern im Film an. Ursachen sind in Dt. und Indien wirtschaftliche. In Dt. die schwierigen Umstände als Landwirt in einem guten Sinn von der eigenen Arbeit leben zu können, auch den Hof erfolgreich an eine nachfolgende Generation weitergeben zu können.
VS führt für Indien Verschuldung der Bauern infolge einer etablierten Abhängigkeit für „modernes“ Saatgut und Betriebsmittel als Gründe an.
ARL und VS sehen beide, dass die industrielle globalisierte Landwirtschaft von vielen Faktoren, die außerhalb ihrer selbst liegen, abhängig ist. ARL nennt Rohstoffpreise, Auflagen durch die Politik, uneinheitliche Standards in verschiedenen Regionen der Welt hinsichtlich der Produktion. Dies führt zu Wettbewerbsverzerrung. Die Lösung von VS besteht in einer radikal lokalen Landwirtschaft und der Minimierung von externen Abhängigkeiten wie Pestiziden, GMO... Der Ansatz lokale Lösungen zu bevorzugen, scheint auch ARL nicht unsinnig. Er erwähnt im Interview mit Reitschuster, dass etliche Länder eine lokale Ernährungssicherheit anstreben, Stichwort „India first“, welches er sich auch von dt. Politikern zu wünschen vorstellen könnte.
Im Film fällt der Satz: „Wenn du die Nahrung kontrollierst, kontrollierst du die Gesellschaft.“.
VS und auch ARL wollen beide für die Bauern eine selbstständige souveräne Lebensweise. ARL formuliert es sinngemäß so, dass die Bauern einfach ihre Arbeit machen wollen - ohne dass ihnen die Politik ständig dazwischen reguliert, ohne dass die Bürokratie über den Kopf wächst, ohne dass man sich Sorgen machen muss, dass die nächste Generation trotz vorhandenem Willen den Hof fortzuführen dies wirtschaftlich nicht mehr kann.
VS gibt im Film und ihren Büchern viele Beispiele wie Kleinbauern in Abhängigkeit getrieben werden. Nur ein Beispiel ist die gezielte Beseitigung heimischen indischen Saatguts und dessen Ersetzen durch GMO-Saatgut.
Beide stehen zu den Traditionen des Bauerntums. Ganz am Anfang des Interviews stellt ARL klar, dass Bauern immer in Generationen denken. Dass ihnen daran liegt, einen fruchtbaren Boden an die Kinder weiter zu geben.
Beide kämpfen für die Interessen der Bauern. ARL erwähnt die Proteste, die es 2021 in Berlin gab und auch die Proteste in NL. VS formulierte selbst in jüngeren Interviews ihre Unterstützung für die Bauernproteste in NL.
Beide lehnen eine fachfremde Regulierung von oben, bei denen die Bauern nur Spielbälle übermächtiger Interessen von Politik und Konzernen sind, ab. ARL und VS stehen auf dem Standpunkt, dass die Bauern am besten selbst wissen, was für sie gut und richtig ist. Niemand hat das Recht ihnen in ihren sehr alten Job hereinzureden. ARL kritisiert den Green Deal der EU, VS ist entschiedene Gegnerin der „Grünen Revolution“. So gegenläufig die Haltungen auf den ersten Blick auch sein mögen: Beides sind den Bauern von außen aufgedrückte Machtpositionen. VS sieht in den transnationalen Konzernen den Hauptgegner der bäuerlichen Selbstständigkeit und Freiheit, ARL reibt sich an einer EU-Hybris.
Beide erkennen sehr klar die Verlogenheit bestimmter „grüner Ziele“ oder unsinngiger Behauptungen. Ich nenne nur wenige Beispiele.
Flächenstilllegungen des Naturschutz wegen lehnen beide ab, denn diese bewirken im Zweifel das Gegenteil. Denn ARL und VS sehen die Notwendigkeit, dass sich der Mensch in die Umwelt als Teil der Natur integrieren sollte, anstatt sich zu separieren. Beide wissen, dass gut gemachte Landwirtschaft Biodiversität nicht verringert. Es gilt einvernehmlich mit der Natur Landwirtschaft zu betreiben. Lustigerweise kommen beide mit geballten Widerwillen auf das Thema Kühe und deren „Abgase“ zu sprechen. Die Behauptung, dass Kühe die Umwelt nachhaltig durch ihre Darmwinde belasten, wurde von Hirschausen bis Gates durchs Grüne Dorf getrieben. ARL und VS stellen sich dagegen.
Der Co2-Zertifikatshandel wird von beiden sehr kritisch gesehen, da das Problem so nicht an der Wurzel gepackt wird. Wie VS gewohnt bissig und klar formulierte: Der CO2-Handel verhindert keine Umweltverschmutzung, er verlagert sie nur wo anders hin.
Beide betonen die Wichtigkeit unserer Lebensmittel als Grundlage gesunden menschlichen Daseins. ARL bemerkt im Video, dass man über dem Thema Energie gern vergesse, dass die wichtigste Energie unsere Lebensmittel seien. Er sieht in diesem Zusammenhang die Ernährungssouveränität durch die aktuelle Politik im Kern bedroht. Eines der Kernthesen auch von VS.
Beide sehen die Bedeutung der Bauern als Erschaffer von Arbeitsplätzen. Der Prozentsatz der Menschen in Afrika oder Indien, die als Keinbauern arbeiten und damit ihr Leben gestalten ist enorm hoch. Die Mehrheit der Menschheit der Erde wird nicht von der Agrarindustrie ernährt, sondern von genau diesen Kleinbauern.
ARL bezeichnete die Bauern in Dt. als Mittelstand, an dem eine Menge weiterer Arbeitsplätze wie Handwerker hängen. Erfüllte Arbeit zu haben stiftet Sinn. Landwirtschaft zu betreiben erfüllt das Leben mit Sinn, egal ob in Indien oder in Deutschland.
Letztlich machten beide, ARL und VS, die Erfahrung für ihr Engagement durch Medien und Politik in eine ungeliebte Ecke gerückt zu werden, denn beide sind unbequem.
In Dt. ist das die letzten Jahrzehnte die Zuschreibung des Rechtsseins.
VS wird gerade in letzter Zeit der Nähe zu Verschwörungstheorien bezichtigt. Zwar können beide, wie es aussieht, gut damit umgehen, Störfeuer für eine sachliche Diskussion ist es natürlich.
Warum schreibe ich das? Mein Erster Blogbeitrag liegt nun 2,5 Jahre zurück. Die Bauern in Europa stehen nach wie vor mit dem Rücken an der Wand. Die Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit ist noch immer sehr gering.
In meinen Augen stehen die vielen kleinen ARLs und kleinen VSs auf der gleichen Seite des Ackers. Es wäre Zeit miteinander zu reden. Diejenigen, die auf der anderen Seite des Ackers stehen, tun es auch, nur betreiben die keine Landwirtschaft.